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Dienstag, den 29. November 2011 um 06:38 Uhr

Falsch geschätzt ist halb gewonnen

Warum schätzen wir dieselbe Entfernung das eine Mal lang und das andere Mal kurz ein? Entscheidend ist, welche Strecken wir direkt zuvor zurückgelegt haben. Was trivial klingen mag, gibt wichtige Aufschlüsse darüber, wie das Gehirn Reize unterschiedlicher Stärke und selbst abstrakte Elemente wie Zahlen verarbeitet. Dies untersuchten Dr. Stefan Glasauer von der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, der auch Projektleiter am Bernstein Zentrum München ist, und seine Doktorandin Frederike Petzschner experimentell und theoretisch. Sie ließen Probanden in einem virtuellen Raum Entfernungen zurücklegen und diese anschließend dort so genau wie möglich reproduzieren. Die Ergebnisse waren, wie in früheren Studien, immer vom richtigen Wert hin zum Mittelwert der zuvor gelaufenen Strecken verschoben.

Die Forscher liefern nun erstmals eine allgemeine Erklärung für dieses Phänomen. Mithilfe eines mathematischen Modells können sie berechnen, wie sich vorangegangene Reize auf die aktuelle Schätzung auswirken. „Dieser Einfluss von Vorerfahrungen folgt höchstwahrscheinlich einem allgemeinen Prinzip und gilt wohl auch für das Abschätzen von Mengen oder Lautstärken“, erklärt Glasauer. Versuchspersonen, die sich bei der Streckenschätzung stark von vorheriger Erfahrung beeinflussen ließen, legten auch bei Winkelschätzung mehr Gewicht auf ihre Vorerfahrung. In beiden Fällen lernten sie auch ohne über den Erfolg oder Misserfolg ihrer Leistung Bescheid zu wissen. Viele Lernverfahren setzen dagegen ein solches Feedback voraus.

Bislang war umstritten, ob ein grundlegendes Prinzip die Wahrnehmung von Reizstärken wie Lautstärke, Helligkeit oder auch Entfernungen bestimmt. Zwei wichtige Gesetze der Psychophysik schienen sich dabei zu widersprechen: das vor 150 Jahren veröffentlichte Weber-Fechner-Gesetz und die 50 Jahre alte Stevens‘sche Potenzfunktion. Die Münchner Wissenschaftler zeigten nun aber, dass sich die beiden Gesetze zumindest in bestimmten Fällen sehr gut miteinander in Einklang bringen lassen. Dafür wird das Weber-Fechner-Gesetz mit dem wahrscheinlichkeitstheoretischen Satz von Bayes (1763) kombiniert und so in die Stevens‘sche Potenzfunktion überführt. „Wir konnten damit zur Lösung eines Problems beitragen, das Wahrnehmungsforscher schon über 50 Jahre beschäftigt“, sagt Glasauer. Als nächstes wollen die Forscher historische Daten analysieren und klären, ob sich das Modell bei unterschiedlichen Reizmodalitäten wie Lautstärke und Helligkeit bestätigt.



Den Artikel finden Sie unter:

http://www.uni-muenchen.de/einrichtungen/zuv/uebersicht/komm_presse/verteiler/presseinformationen/2011/f-89-11.html

Quelle: Ludwig-Maximilians-Universität München (11/2011)


Publikation:
Petzschner F, Glasauer S (2011): Iterative Bayesian estimation as an explanation for range and regression effects - A study on human path integration;
J Neurosci 2011, 31(47): 17220-17229

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