Forschende des Hessischen Landesmuseums Darmstadt und des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums Frankfurt haben entschlüsselt, welche Faktoren die enorme Vielfalt von pflanzenfressenden Insekten bestimmen. In ihrer Studie zeigen sie, dass sich die Diversität der herbivoren Insekten in den letzten 60 Millionen Jahren hauptsächlich durch die gemeinsame Nutzung von Nahrungspflanzen entwickelte. Hierfür analysierte das Forschungsteam die Fraßspuren von Gliedertieren an mehr als 45.000 fossilen Blättern.
Pflanzenfressende Insekten sind die vielfältigste Gruppe
mehrzelliger Organismen auf der Erde. Auch ihre verschiedenen
Mundwerkzeuge und Ernährungsweisen zeugen von einer hohen Diversität: Es
gibt zum Beispiel Schmetterlingsraupen oder Käfer, die mit ihren
kräftigen Mundwerkzeugen Blätter anknabbern, Wanzen und Blattläuse, die
Pflanzen anstechen, um an ihren Saft zu gelangen, oder Tiere, die
Pflanzen zur Bildung von Gallen – Gewebewucherungen – anregen, in denen
sie sich vor Feinden geschützt entwickeln und ernähren können. „Die
Fraßspuren solcher Insekten sind auch an fossilen Blättern deutlich zu
erkennen. Sie können uns dabei helfen, die Faktoren zu identifizieren,
die zu der enormen Vielfalt von pflanzenfressenden Insekten führten“,
erklärt Dr. Jörg Albrecht vom Senckenberg Biodiversität und Klima
Forschungszentrum Frankfurt.
Albrecht hat gemeinsam mit Prof. Dr.
Torsten Wappler vom Hessischen Landesmuseum Darmstadt und weiteren
Senckenberg-Forschenden insgesamt 47.064 fossile Blätter aus 436
Pflanzenarten von 16 Standorten in Mitteleuropa, Island und Norwegen
klassifiziert und auf Fraßspuren von Insekten geprüft. „Die von uns
untersuchten Fossilien decken nahezu das gesamte Känozoikum ab, also die
Zeit von 66 bis zwei Millionen Jahren vor heute. Die versteinerten
Blattfossilien stammen zudem aus verschiedenen Klimabedingungen – von
subtropisch über ozeanisch bis hin zu feucht-kontinental“, erläutert
Wappler.
Jedes gut erhaltene fossile Blatt wurde von dem
Wissenschaftler*innen-Team auf Insektenfraß untersucht. Über ein Fünftel
der untersuchten Blätter zeigte entsprechende Spuren. „Anhand dieser
Daten können wir zeigen, dass Nahrungspflanzen bereits früh in der
Erdgeschichte von einer Vielzahl pflanzenfressender Insekten genutzt
wurden. Mehr noch: Die genaue Auswertung der Fraßspuren zeigt, dass die
gemeinsame Nutzung einer Pflanzenart durch verschiedene Gruppen
pflanzenfressender Insekten doppelt so viel zu deren funktioneller
Vielfalt – in Bezug auf die Ernährungsweise – beitrug, wie die
Artenvielfalt der Nahrungspflanzen selbst“, so Albrecht.
Die
Ergebnisse geben damit neue Einblicke in die Entstehung der Diversität
von Insekten und zeigen, dass das gemeinsame Vorkommen vieler
spezialisierter Insektenarten auf derselben Pflanzenart der Hauptfaktor
für die funktionelle Vielfalt pflanzenfressender Insekten ist, so die
Autor*innen. Albrecht fügt hinzu: „Wenn sich verschiedene Insektenarten
eine Nahrungspflanze teilen, müssen sie auch ihre Ernährungsweise
anpassen, um nicht direkt miteinander in Konkurrenz zu treten. So
entsteht im Laufe von Millionen Jahren eine unglaubliche Vielfalt an
Mundwerkzeugen und letztendlich auch Arten.“ Die Resultate der
Untersuchung spiegeln sich in heutigen tropischen Wäldern wider, wo die
meisten pflanzenfressenden Insektenarten auf bestimmte Pflanzenfamilien
spezialisiert sind, die ihrerseits eine Vielzahl von Insektenarten
ernähren.
„Unsere Studie unterstreicht, dass fossile Belege
genutzt werden können, um grundlegende Theorien über die Entstehung der
biologischen Vielfalt zu testen. Die Ergebnisse unserer Studie sind auch
ein wichtiger Maßstab, um herauszufinden, welche Faktoren die Vielfalt
von pflanzenfressenden Insekten in heutigen Ökosystemen bestimmen“,
schließt Wappler.
Den Artikel finden sie unter:
https://www.senckenberg.de/de/pressemeldungen/raupe-nimmersatt-60-millionen-jahre-alte-frassspuren/
Quelle: Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung (08/2023)
Publikation:
Jörg
Albrecht, Torsten Wappler, Susanne A. Fritz, & Matthias Schleuning
(2023): Fossil leaves reveal drivers of herbivore functional diversity
during the Cenozoic. PNAS. DOI: 10.1073/pnas.2300514120
Dienstag, den 15. August 2023 um 06:37 Uhr