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Mittwoch, den 26. Juni 2019 um 11:13 Uhr

Gebückt durch die Cheops-Pyramide - wie die Handlungsmöglichkeiten einer Umgebung die Wahrnehmung beeinflussen

Innovative Forschung im Berlin Mobile Brain/Body Imaging Labor der TU Berlin zeigt auf, dass das motorische und sensorische System des Menschen, zuständig u.a. für die Bewegungsausführung und die Wahrnehmung der Umwelt bei Bewegung, dynamisch zusammenwirken. Potenzielle Handlungen, beispielsweise gebücktes Durchschreiten eines niedrigen Gangs, beeinflussen immer auch die Wahrnehmung des Raums. Andersherum hat die Wahrnehmung einen Einfluss auf Handlungen. Diese neuen Erkenntnisse leisten einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Funktion des menschlichen Gehirns und wurden nun in der Fachzeitschrift PNAS der US-amerikanischen National Academy of Sciences als Open Access-Paper veröffentlicht. Für die TU Berlin ist die Veröffentlichung ein Zeichen für den Erfolg des erst 2018 eröffneten Labors.

Wie funktioniert das menschliche Gehirn? Diese Frage kann auch im Jahr 2019 nur sehr unzureichend beantwortet werden. Zwar beschäftigte sich der Mensch nachweislich bereits im alten Ägypten mit dem Gehirn. Intensive Forschung machte seitdem auch umfangreiche Erkenntnisse über das Zusammenspiel der rund 90 Milliarden Nervenzellen möglich, die Menschen unter anderem Emotionen, Entscheidungen und Erinnerungen ermöglichen. Jedoch stellen sich der Wissenschaft auch heute noch unzählige Rätsel über das wichtigste aller Organe.

In einer jahrhundertealten Debatte in den kognitiven Neurowissenschaften und der Philosophie geht es etwa um die Frage des Zusammenhangs zwischen Wahrnehmung, Bewegung und Umgebung. Kann Wahrnehmung als kognitive Funktion nur im Zusammenspiel mit einer Handlung, etwa einer Bewegung erfolgen oder entsteht das „Erkennen“ auch abgekoppelt von physischen Handlungen?

Prof. Gramann nennt zur Veranschaulichung zwei Beispiele: „Es macht einen deutlichen Unterschied, wenn sie die enorm hohe und große Grabkammer einer ägyptischen Pyramide betreten, nachdem Sie vorher gebückt durch einen langen Gang gehen mussten. Der Eindruck beim Betreten der Grabkammer ist umso größer und befreiender. Stellen Sie sich das ‚mulmige Gefühl‘ vor, wenn Sie nachts durch eine schwach beleuchtete Unterführung gehen müssen. Der Anblick – die geschätzte Distanz, die schlechte Umgebungsbeleuchtung, mögliche Gefahren – ist bereits durch die motorische Anforderung mit beeinflusst. Je länger Sie gehen müssen, umso mulmiger wäre es.“

Wie antizipiert das Gehirn sinnvolle Handlungen? Welche Vorhersagemechanismen setzt das Gehirn dabei ein?

Der TU-Professor Dr. Gramann hat in Kooperation mit Forschenden der Universität Aalborg untersucht, wie das Gehirn auf architektonische Gestaltung reagiert. Durch Experimente im Berliner Labor konnte das Team herausfinden, dass die Handlungsmöglichkeiten sich in einem Raum zu bewegen bereits beim ersten Betrachten des Raumes die Gehirnaktivität modulieren. Konkret sollten Proband*innen in einer virtuellen Umgebung durch unterschiedlich breite Türen gehen, die entweder nicht-passierbar oder aber gerade so, bzw. ganz klar passierbar waren.

Das Gehirn verarbeitet in diesen Situationen kontinuierlich Fragen wie „Wie kann ich handeln?“ und „Was nehme ich wahr?“. Potenzielle Handlungen beeinflussen dabei die Wahrnehmung und andersherum Handlungen die Wahrnehmung. Kognition und physisches System arbeiten also dynamisch miteinander. Sich im Raum zu bewegen, bedeutet ständig Vorhersagen über die Welt, die wir wahrnehmen, zu erzeugen.

Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass Architektur durch Gestaltungsmerkmale einen Einfluss auf die Wahrnehmung hat. Damit werden klassische theoretische Ansätze in der Architektur relevanter, die besagen, dass eine ganzheitliche Architektur wichtig für die Gesundheit der Menschen ist. Das Team um Prof. Gramann möchte die Forschung im Bereich Architekturpsychologie und Neuroarchitektur nun weiter ausbauen.

Die Forschung leistet zudem wichtige Erkenntnisse über die Grundlagen menschlicher Informationsverarbeitung und wurde daher im renommierten US-amerikanischen Journal „Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America“, kurz PNAS, veröffentlicht. Das offizielle Magazin der US-amerikanischen National Academy of Sciences wird seit 1914 wöchentlich herausgegeben und gilt weltweit als eine der wichtigsten wissenschaftlichen Fachzeitschriften. Neben „Nature“ und „Science“ gehört es zu den meistgelesenen und am häufigsten zitierten multidisziplinär ausgerichteten Fachzeitschriften.

BeMoBil-Labor der TU Berlin macht innovative Forschung im Bereich der Neurowissenschaften möglich

Das Berlin Mobile Brain/Body Imaging Labor der TU Berlin macht seit 2018 durch innovative neurowissenschaftliche Ansätze die Messung von Hirnaktivität in Bewegung möglich. Bisher ließen Methoden der Neurowissenschaft nur eingeschränkte Bewegung bei Untersuchungen zu. Man denke an die funktionelle Magnetresonanztomographie, kurz fMRT, bei der Patient*innen regungslos in einer Röhre liegen. fMRT und ähnliche Verfahren erzeugen einen stark künstlichen Charakter beim Versuchsaufbau wissenschaftlicher Experimente.

Im Labor von Prof. Dr. Gramann können diese Einschränkungen zumindest teilweise durch den Einsatz von Virtual Reality-Brillen und einer Vielzahl von Sensoren eliminiert werden. Die Proband*innen bewegen sich in einer virtuellen Welt, über eine Messkappe wird deren Hirnaktivität ausgewertet. Außerdem unterstützen Sensoren zur Bewegungsmessung oder etwas Eye-Tracking-Systeme die Auswertung der neuronalen Vorgänge des sich bewegenden Menschen. Die Versuchsumgebung ist zwar ebenfalls künstlich, kommt jedoch der natürlichen Umwelt durch die Bewegungsfreiheit deutlich näher.

„Das Labor ist momentan mit seinen technischen Möglichkeiten weltweit das einzige in dieser Größe speziell für die Messung menschlicher Hirnaktivität in Bewegung“, so Prof. Dr. Gramann. „Damit bildet die TU eine attraktive Infrastruktur, die für internationale Forscher von großem Interesse ist. Die einzigartigen Möglichkeiten des BeMoBILs haben zu einer Kollaboration mit Architekten der Universität Aalborg geführt, die den Einfluss architektonischer Gestaltungsmerkmale auf die menschliche Wahrnehmung untersuchen, wenn der Mensch sich durch den Raum bewegt“, so der TU-Wissenschaftler weiter.

Das Labor konnte bereits diverse nationale sowie internationale Kooperationspartner gewinnen. Aktuell arbeitet das Team etwa in Zusammenarbeit mit dem Vision Science Institut in Paris an den neuronalen Grundlagen junger und älterer Menschen bei der Verarbeitung räumlicher Hinweisreize, mit der University of California San Diego in den USA und der University of Technology Sydney, Australien an der menschlichen Hirnakivität während der Navigation, und der York University in Kanada an der Hirnaktivität beim Lernen von Tanzchoreographien. Ein weiteres Forschungsprojekt findet in Kooperation mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin statt. Hier wird untersucht, ob bei Patient*innen mit Erkrankungen des medialen Temporallappens – einem Hirngebiet, welches für Raumorientierung und Gedächtnis besonders wichtig ist – auch dann noch Ausfallerscheinungen in der räumlichen Orientierung auftreten, wenn sich diese mit dem ganzen Körper im Raum bewegen können. Ziel ist es, das menschliche Gehirn besser zu verstehen und dieses Wissen später auf praktische Anwendungen zu übertragen, etwa im Bereich der medizinischen Diagnostik.


Den Artikel finden Sie unter:

https://www.tu-berlin.de/?206178

Quelle: Technische Universität Berlin (06/2019)

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