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Donnerstag, den 23. Dezember 2021 um 05:04 Uhr

Paläogenomik: Die Spur der frühen Gene

Sie tragen Namen wie Grauwind oder Geist. Und für Fans von Game of Thrones sind sie „majestätisch, loyal und gehorsam“: Mit den riesenhaften „Schattenwölfen“, Wappentieren, erzählt die Serie die ganz eigene Geschichte einer Domestikation – Fantasy eben. Die längst ausgestorbenen Tiere jedenfalls, die den Fabel-Kreaturen Pate standen, dürften alles andere gewesen sein als treue Begleiter. „Canis dirus“, zu Deutsch „schrecklicher Hund“, war vermutlich kaum zähmbar. Bis zu seinem Aussterben vor rund 13.000 Jahren war er in ganz Nordamerika weit verbreitet. Bislang ging man davon aus, dass er mit Wölfen eng verwandt war. Die Tiere sahen ihnen sehr ähnlich, auch wenn sie größer waren und kräftigere Kiefer hatten. Doch Laurent Frantz konnte nun mit aufwendigen genetischen Untersuchungen zeigen, dass da nicht viel dran ist.

Doch wie sehen die Abstammungslinien tatsächlich aus? Und vor allem: Wann und wo wurden Wölfe das erste Mal zu Hunden domestiziert? Das sind Fragen, an denen der Professor für Paläogenomik der Haustiere forscht. Er analysiert dafür Überreste von Erbmaterial, das sich noch aus prähistorischen Funden isolieren lässt, und vergleicht diese „alte“ DNA mit der genetischen Ausstattung von heute lebenden Tieren. So lassen sich Verwandtschaftsbeziehungen aufklären und evolutionäre Prozesse wie anthropogene Selektion, das Entstehen und Aussterben von Arten sowie die Domestikation über die Zeit verfolgen. Solche Fragen untersucht Frantz nicht nur für Hunde, sondern auch für andere Haustiere wie Schweine, Hühner, Katzen, Rinder und Schafe.

Der Schattenwolf jedenfalls hat keine genetischen Spuren in heute lebenden Tieren hinterlassen: Im Rahmen einer großen internationalen Kooperation gelang es Frantz, das Erbgut von fünf teilweise mehr als 50.000 Jahre alten subfossilen Canis dirus-Überresten zu entschlüsseln. Dabei zeigte sich zur Überraschung der Forscher, dass moderne Wölfe trotz der äußerlichen Ähnlichkeit bestenfalls entfernte Cousins von Canis dirus sind: Der war das letzte Mitglied einer ausgestorbenen Abstammungslinie, die sich vor rund sechs Millionen Jahren abspalten und völlig unabhängig von heutigen Wölfen entwickelt hatte. „Die genetischen Unterschiede sind so groß, dass sich Canis dirus vermutlich nicht mit anderen Hundeartigen wie Koyoten oder Wölfen fortpflanzen konnte“, sagt Frantz. „Um sich so stark zu unterscheiden, muss das Tier in Nordamerika sehr lange isoliert gewesen sein.“

Aber welche der im späten Pleistozän in ganz Eurasien verbreiteten Wölfe waren die Urahnen unserer heutigen Haushunde? Sicher ist: Der Hund begleitet seine Besitzer seit mindestens 15.000 Jahren – schon deutlich bevor die ersten Menschen im Nahen Osten sesshaft wurden und begannen, Ziegen, Schafe oder Rinder zu halten. „Das ist auch einer der Gründe, warum der Ursprung der Hunde so schwer zu fassen ist“, sagt der Paläogenomiker. „Da die Menschen noch keine dauerhaften Siedlungen bewohnten, gibt es nicht viele Überreste aus archäologischen Stätten.“ Frantz arbeitet eng unter anderem mit Archäologen, Paläontologen und Historikern aus der ganzen Welt zusammen. Ihre Erkenntnisse helfen, den zeitlichen, sozioökonomischen und ökologischen Kontext der Fundorte zu verstehen, und tragen wie Puzzlestücke zu einem Gesamtbild bei.

Aktuell deutet für Frantz alles darauf hin, dass die Domestikation der Hunde vor etwa 23.000 Jahren in Sibirien stattgefunden hat. Hinweise darauf fand er gemeinsam mit Kollegen durch Erbgutanalysen von 71 frühen Hunden aus archäologischen Fundstätten in Amerika. Diese Daten zeigten, dass alle Tiere zu einer heute ausgestorbenen genetischen Linie gehören und nicht von Wölfen des amerikanischen Kontinents abstammen. Stattdessen sind sie mit fossilen Hunden verwandt, die in Sibirien gefunden wurden.

Die Ankunft der Hunde in der Neuen Welt

Wir gehen davon aus, dass die ersten Amerikaner ihre Hunde von dort mitbrachten, als sie vor 20.000 Jahren in die Neue Welt einwanderten“, sagt Frantz. Dafür sprechen auch genetische Analysen menschlicher Überreste aus dieser Zeit, die dieselben Wanderungsbewegungen widerspiegeln, wie sie die Forscher auch für die Hunde annehmen. Zur Zeit des letzten glazialen Maximums vor 23.000 – 19.000 Jahren muss es in Sibirien demnach domestizierte Hunde gegeben haben. Da das Land sehr dünn besiedelt war und die Menschen sehr isoliert lebten, halten die Forscher es für unwahrscheinlich, dass Hunde von einem anderen Ort dorthin gekommen sein könnten. „Die rauen klimatischen Bedingungen – es war extrem kalt und trocken – und die Isolation könnten dazu beigetragen haben, dass sich Menschen und Wölfe nähergekommen sind“, vermutet Frantz.

Von Sibirien aus haben sich die Hunde dann mit ihren Besitzern über den Globus verbreitet und waren vor 11.000 Jahren bereits stark diversifiziert: Anhand des Erbguts von 27 Hunden aus prähistorischen Funden in Europa, dem Nahen Osten und Sibirien wies Frantz gemeinsam mit einem internationalen Team fünf verschiedene Abstammungslinien nach – ein weiterer Beweis dafür, dass ihre Domestizierung lange vorher stattgefunden haben muss. Der Abgleich mit 17 menschlichen DNA-Proben aus denselben Zeiten und Fundstätten zeigt deutliche Überschneidungen und unterstreicht, dass Mensch und Hund gemeinsam unterwegs waren. So wurden etwa die ersten Bauern, die von der Levante aus nach Europa und Afrika wanderten, von ihren Hunden begleitet. Aber die Migration erfolgte nicht immer parallel: Die Einwanderung von Steppenvölkern aus dem Osten während der Bronzezeit etwa hat sich zwar in den Genen der Europäer deutlich niedergeschlagen – nicht aber in denen ihrer Hunde. Möglicherweise waren in diesem Fall einheimische Rassen im Vorteil, weil sie besser angepasst oder weniger anfällig gegen Infektionskrankheiten waren.

Solche umfangreichen paläogenomischen Studien wären undenkbar ohne Fortschritte in den molekularbiologischen Methoden. Dazu gehören etwa verbesserte Techniken, alte DNA aus stark degradierten Proben zu gewinnen. Die Erforschung alter Erbsubstanz gleicht oft noch der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen: DNA ist kein sehr stabiles Molekül und wird nach dem Tod abgebaut. Ob etwa Knochen verwertbares Material enthalten, ist schwer vorherzusagen und hängt auch vom Fundort ab: „Wenn ein Mammut in der Arktis starb, war es schnell eingefroren. Im Eis bleibt DNA viel besser erhalten als etwa im Dschungel“, sagt Frantz. „Es ist ein großes Fischen: In unseren Labors beispielsweise haben wir aus rund 1500 Hundeknochen etwa 20 Genome erhalten.“

Die Einführung von Hochdurchsatzverfahren – das sogenannte Next-Generation-Sequencing (NGS) – hat die Entschlüsselung von Erbsubstanz in den vergangenen zehn Jahren revolutioniert. Die verfeinerten Methoden ermöglichen erstmals die schnelle und kostengünstige Analyse von Millionen von DNA-Fragmenten gleichzeitig. Zudem können nun auch viel kleinere DNA-Fragmente analysiert werden – gerade für die Analyse alter DNA, die oft schon in Bruchstücke zerfallen ist, ist dies ein wichtiger Vorteil.

Aber die neuen Möglichkeiten haben auch neue Herausforderungen mit sich gebracht, wie der Forscher betont, vor allem weil enorme Datenmengen generiert werden. Manche Kollegen überlegten, nicht die Daten, sondern lieber die Proben selbst einzulagern, da diese erneut zu sequenzieren billiger sei als die Datenspeicherung. „Neben dem Problem der Speicherung stehen wir außerdem vor algorithmischen Fragen: Wie geht man mit so vielen Daten um?“ München biete für das erforderliche Supercomputing eine sehr gute Infrastruktur und sei auch deshalb ein guter Ort für diese Art von Forschung, meint Frantz, der im September 2020 von London an die LMU wechselte.

„Eine der größten Überraschungen bei unseren Untersuchungen war für mich, dass wir seit 10.000 Jahren praktisch keinen Genfluss von Wölfen zu Hunden gefunden haben“, erzählt Frantz. „Nach der ersten Domestikation hat es also kaum mehr Vermischung gegeben, obwohl sich gerade Arten aus der Verwandtschaft der Hunde eigentlich sehr häufig paaren.“ Der Forscher spekuliert, dass dies möglicherweise mit einer starken Selektion gegen – eventuell aggressivere – Wolfsmischlinge durch den Menschen zusammenhängt.

Die doppelte Domestikation des Schweines


Solche Befunde stehen damit in Kontrast zu dem, was Frantz in früheren Arbeiten zur Domestikation der Schweine zeigen konnte: Mit der Ausbreitung der Landwirtschaft vor 10.000 Jahren kam auch das Schwein nach Europa. Dort hat es sich in einem solchen Ausmaß mit Wildschweinen gekreuzt, dass schon nach ein paar Hundert Jahren das ursprüngliche Genom für den Forscher nicht mehr zu erkennen war. Zudem sei das Schwein das einzige Tier, bei dem es wirklich starke Hinweise darauf gibt, dass es zweimal domestiziert wurde.

„Das Schwein ist daher sowohl bezüglich seiner Domestikationsgeschichte als auch aus evolutionärer Sicht sehr interessant“, sagt Frantz. „Wie kann es ein Hausschwein bleiben, wenn doch der größte Teil des Genoms nun enger mit dem des Wildschweins verwandt ist?“ Möglicherweise spielen dabei auch kleine chemische Modifikationen des Erbguts eine Rolle, sogenannte epigenetische Veränderungen. Sie ändern nichts an der DNA-Sequenz, können aber beispielsweise die Aktivität von Genen beeinflussen. Aktuell untersucht Frantz, ob sich in Gefangenschaft aufgezogene Wildschweine epigenetisch von wild lebenden unterscheiden. In Zusammenarbeit mit Kollegen will er außerdem das Epigenom einiger anderer früher Tiere rekonstruieren. „Es gibt Möglichkeiten, das Epigenom in DNA-Extrakten aus Tierknochen zu bestimmen. Das ist experimentell eine ziemliche Herausforderung, aber meiner Ansicht nach auch ein sehr vielversprechender Ansatz.“

Alte DNA spiegelt aber nicht nur die genetische Vergangenheit wider, sie kann möglicherweise sogar helfen, einen Blick in die Zukunft einer Tierart zu werfen. Auf der indonesischen Insel Sulawesi untersucht Frantz die Genetik zweier vom Aussterben bedrohter Tierarten: des Hirschebers, der zur Familie der Schweine gehört, und des Anoa, eines kleinwüchsigen Wildrinds. Beide Arten kommen nur auf Sulawesi vor und leiden stark unter der zunehmenden Zerstörung der dichten Regenwälder, auf die sie als Lebensraum angewiesen sind. Die einzigartigen Tiere faszinierten Forscher seit ihrer Entdeckung, deshalb gibt es in Museen zahlreiche Exemplare, die mitunter schon aus dem 19. Jahrhundert stammen.

Dies macht sich Frantz zunutze, um das Genom der alten Tiere mit dem der heute lebenden zu vergleichen. Daraus gewinnt er wertvolle Daten, mit denen sich einschätzen lässt, wie stark die genetische Diversität der Bestände sinkt und Inzucht sowie schädliche Mutationen in den kleiner werdenden Populationen zunehmen. „Die Lebensraumzerstörung hat auch zu einer genetischen Erosion geführt“, resümiert Frantz. Solche vergleichenden genetischen Studien könnten dazu beitragen, das Ausmaß der Bedrohung besser abzuschätzen, und gemeinsam mit anderen Kriterien als Entscheidungshilfe für Schutzmaßnahmen dienen – damit Hirscheber und Anoa nicht wie Canis dirus nur noch in Museen oder als Fantasy-Geschöpfe überdauern.


Den Artikel finden Sie unter:

https://www.lmu.de/de/newsroom/newsuebersicht/news/die-spur-der-fruehen-gene.html

Quelle: Ludwig-Maximilians-Universität München (12/2021)

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